15.04.2007

„Wir werden uns vor die Bulldozer werfen“

Автор: Discover Baikal

Am Baikalsee demonstrieren die Menschen gegen den Bau einer ?l-Pipeline

MDZ    2006-04-26                                                                  

Autor: Ulrich Heyden

Noch in diesem Sommer will der russische Staatskonzern Transneft mit dem Bau einer ?l-Pipeline nach China beginnen. Die Trasse soll in nur 800 Metern Entfernung am Baikalsee vorbeif?hren. Umweltsch?tzer f?rchten im Falle einer m?glichen ?l-Havarie um den Bestand des weltweit gr??ten Trinkwasserreservoirs und gehen zu Tausenden auf die Stra?e.

Das kleine Seehunde-Weibchen saust die Glasscheibe des Aquariums entlang, richtet sich kerzengerade auf und schnappt nach Luft. Dann senkt die Robbe mit dem grauen Fell den Kopf, guckt auf die Zuschauer und wischt sich mit der Flosse ?bers Gesicht. Dabei klappen ihre Augen zu, so als wolle die Kleine sagen, „Ihr wisst gar nicht, wie eng es hier ist.“
Das Aquarium im Baikal-Museum, in dem der kleine Seehund zusammen mit seiner Mutter lebt, befindet sich in der N?he des Touristen-Ortes Listwjanka, nur 100 Meter vom Baikalsee entfernt. Dieser ist gewaltige 630 Kilometer lang, 50 Kilometer breit und bietet etwa 80 000 Baikal-Robben Lebensraum. Die Mutter des kleinen Seehund-Weibchens fand man auf dem Eis des Baikals mit einer Schusswunde im R?cken. Diese wurde gen?ht. W?hrend ihr Junges aufgeregt durchs Becken rast, liegt die Mutter meist faul mit geschlossenen Augen am Beckenboden. Die Baikal-Robben sind die einzigen S??wasser-Robben der Welt. Im Sommer tummeln sie sich auf den Felsen, im Winter leben sie unter der Eisdecke und schaben sich mit ihren scharfen Flossen Luftl?cher in das 90 Zentimeter dicke Eis. Der Baikalsee speichert ein F?nftel des weltweit vorhandenen Trinkwassers und ist die Heimat vieler Tiere und Pflanzen, die man nur in dieser Region findet.

Dazu geh?rt neben der S??wasser-Robbe auch der Golomjanka, ein
lebend geb?render Fisch, der die kalten Tiefen des Baikal liebt. Den kleinen Fisch kann man im Aquarium des Museums genauso bewundern, wie seine gro?en Artgenossen, den Omul, den Charius und den Linok.
Noch ist der anderthalb Kilometer tiefe See weitgehend unverschmutzt. Doch der Baikal, den die Unesco auf Initiative russischer Umweltsch?tzer 1996 zum Weltkulturerbe erkl?rte, ist in Gefahr: 1966 wurde im S?den des Sees ein Papierkombinat in Betrieb genommen. Obwohl es nach den damals g?ltigen Gesetzen schon 1992 seinen Betrieb einstellen sollte, produziert es noch heute und verschmutzt den S?dteil des Baikalsees mit seinen Abw?ssern. Die Zellulose wird im Chlorbleichverfahren hergestellt.

Dabei werden Dioxine, Phenol und Chlorverbindungen frei. Jetzt droht dem einzigartigen See eine weitere Gefahr. Der russische Pipeline-Konzern Transneft plant eine ?l-Pipeline von Sibirien nach China. Die Energieader soll im Abstand von 800 Metern am Nordufer des Baikal vorbeif?hren.

Die Vermessungsarbeiten am See haben bereits begonnen. „Es werden schon Schneisen in den Wald geschlagen“, berichtet Jenny Sutton von der Umweltorganisation Baikal-Welle in Irkutsk. Um die Baukosten des
Zw?lf-Milliarden-Projekts nicht weiter in die H?he zu treiben, will man
offensichtlich die Trasse der Baikal-Amur-Bahn nutzen, die am Nordufer
des Sees durch bis zu 17 Kilometer lange Tunnel f?hrt. Eine Nord-Route, die das Wasser-Einzugsgebiet des Baikalsees weitr?umig umgangen h?tte, wurde verworfen. Diese Route w?rde die Pipeline zum „Verlustprojekt“ machen, erkl?rte Sergej Grigorjew, stellvertretender Transneft-Chef, gegen?ber dem Nachrichtenmagazin „Wlast“. Schon jetzt befinde sich das Projekt „an der Grenze der Rentabilit?t“. Von der ?ko-Bewegung fordert er „mehr Verantwortungsbewusstsein“. Dabei hatte sich sogar Putins Sibirien-Beauftragter, General Anatolij Kwaschnin, gegen die T
rassenf?hrung am See ausgesprochen. Der General, der den zweiten Tschetschenien-Krieg leitete, wei? um die Stimmung der selbstbewussten „Sibirjaken“, von denen viele Nachfahren von Verbannten sind und die ihren See wie ein Heiligtum verehren.

„Wir brauchen hier keine ?l-Pipeline“, meint Tatjana, die im Dorf Listwjanka, am Ufer des gro?en Sees, luftgetrocknete und ger?ucherte Sik-Fische an Touristen verkauft. „Der Baikal ern?hrt uns. Wir leben hier vom Tourismus“, meint die Hausfrau, die sich als Fischh?ndlerin Geld dazu verdient. „Wenn nur ein bisschen ?l ausl?uft, ist unser See hin.“ Sie verstehe nicht, warum man gerade hier eine Pipeline baue, wo es doch t?glich zu kleinen Erdst??en kommt, die immerhin so stark sind, dass das Geschirr klappert.

„Ich hatte Angst, dass mein Haus zusammenbricht. Die Balken krachten und alles, was an den W?nden hing, bewegte sich wie ein Uhrpendel.“ Mit diesen Worten beschrieb der deutsche Forscher Daniil Messerschmidt, der zehn Jahre am Baikal lebte, das Erdbeben vom 1. Febraur 1725. Das letzte gro?e Beben mit der St?rke elf wurde im Jahr 1957 registriert. Die Chroniken berichten von Schlafenden, die aus den Betten geschleudert wurden, von Schornsteinen, die in sich zusammenfielen, von Kreuzen, die von Kirchd?chern fielen, und von Quellen, die versiegten oder neu entstanden.

Valerij Imajew, Professor f?r Seismologie am Institut zur Erforschung der Erdkruste in Irkutsk, hat die Erdbeben der vergangenen Jahrhunderte erforscht. Auf seinem Computerbildschirm pr?sentiert er Luftaufnahmen der Bergreliefs um den Nordteil des Sees. Deutlich sind die Absch?rfungen zu erkennen. Sie stammten von gro?en Gesteins-Verschiebungen, erkl?rt der Forscher, der in den 70er Jahren am Bau der Baikal-Amur-Eisenbahn beteiligt war. Der Nordbereich des Baikal liegt, so Imajew, mitten in einem Erdbebengebiet. „Am Baikal sto?en die indische und die eurasische Platte zusammen.“ Seit 26 Millionen Jahren bewegen sich die Kontinentalplatten aufeinander zu. W?hrend die Platten vor 26 Millionen Jahren im Tempo von 25 Zentimeter pro Jahr zusammenprallten, hat sich die Geschwindigkeit heute auf f?nf Millimeter im Jahr vermindert.

Wer denkt, die Russen w?rden sich nicht f?r Umweltprobleme interessieren, wird in Irkutsk – einer Industriestadt mit 600 000 Einwohnern – eines Besseren belehrt. Man hat den Eindruck, die Pipeline werde direkt durch die G?rten der Leute verlegt, so aufgebracht sind die Menschen, die um ihren geliebten See f?rchten: Jeden Sommer w?lzen sich Autokolonnen mit urlaubshungrigen St?dtern auf dem „Baikalskij-Trakt“ Richtung Baikal. Dort findet sich alles, was man zur Erholung braucht: sauberes Wasser und saubere Luft, ein Panorama mit schneebedeckten Berggipfeln und erholsame Stille. Die Urlauber leben in Zelten oder quartieren sich in den Holzh?tten entlang des Sees ein. Hotelburgen gibt es bisher nicht.

Auf Information und Aufkl?rung ?ber seine Pl?ne hat das ?lunternehmen Transneft bisher verzichtet. Offenbar hoffte man, das sensible Projekt ohne ?ffentliche Diskussion durchziehen zu k?nnen. Doch es kam anders. Mitte M?rz demonstrierten in Irkutsk 4 500 Menschen f?r eine andereTrassenf?hrung. Zu einer zweiten Protestaktion Anfang April kamen 5 500 Demonstranten. Gala Sibirjakowa von der „Baikal-Bewegung“ erz?hlt stolz, dass es solch gro?e Demonstrationen in Irkutsk seit dem Putsch gegen Gorbatschow in 1991 nicht mehr gegeben hat. An den Demonstrationen beteiligten sich Vertreter aller Parteien. An der ersten Demonstration nahmen sogar 200 Mitglieder der Kreml-Partei „Einiges Russland“ teil. Auf der Rednertrib?ne sprachen der Gouverneur und der Parlamentsvorsitzende des Gebiets Irkutsk. Die H?lfte der Abgeordneten ist gegen eine Trassenf?hrung entlang des Sees. Auf der zweiten Demonstration war die Stimmung noch emotionaler als auf der ersten: „Nieder mit Trans-Tod“, riefen die Menschen. Der Schamane Valentin Chagdajew von der Baikal-Insel Olchon versprach den Versammelten magische Kraft. Der „heilige See“ d?rfe nicht gef?hrdet werden. Ein Sprecher drohte, wenn die Bauarbeiten beg?nnen, werde man sich „vor die Bulldozer legen“.

Die Fernsehkan?le in Moskau haben bisher nicht ?ber die Proteste berichtet. „Die haben eine Anweisung von oben bekommen“, vermutet Valerij Lukin, stellvertretender Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes im Gebiet Irkutsk. Lukin ist einer der f?hrenden K?pfe der „Baikal-Bewegung“. Er f?rchtet, dass sich der Pipeline-Bau und m?gliche ?l-Leckagen negativ auf den Tourismus auswirken. Im Kreml f?rchtet man dagegen, dass das Beispiel der Sibirjaken Schule macht. Russland hat wegen des weltweiten Energiehungers noch mehrere Pipelines in Planung. Doch es scheint, dass die Pipeline-Bauer die Umweltsch?tzer in Zukunft in ihre Pl?ne mit einbeziehen m?ssen.


Hintergrund:

Sibirisches ?l f?r China mit einer 4 200 Kilometer langen Ost-West-Pipeline sollen j?hrlich 80 Millionen Tonnen sibirisches ?l von Tajschet (Gebiet Irkutsk) bis nach Skoworodino (Grenzgebiet China) und weiter bis zum Pazifik-Hafen Nachodka gepumpt werden. ?ber einen Abzweig von Skoworodino sollen j?hrlich 30 Millionen Tonnen ?l ins nordchinesische Dazin flie?en. Das Pipeline-Projekt nach China geht ausgerechnet auf einen Plan des vom Staat zerschlagenen ?lkonzerns Yukos zur?ck. Mit dem Bau der Pipeline will man in diesem Sommer beginnen. Bis 2008 soll das Teilst?ck bis zur chinesischen Grenze fertig sein. Bei der von Umweltsch?tzern geforderten weitr?umigen Umgehung der Baikal-Region w?rden 900 Millionen Dollar Mehrkosten anfallen. Nach der jetzigen Planung kostet die Sibirien-Pipeline bereits 12 Milliarden Dollar.

Die Umweltsch?tzer bef?rchten, dass bei einem Defekt an der Pipeline innerhalb von 20 Minuten 3 000 Tonnen ?l auslaufen. Der Nordteil des Baikal w?rde dann von einem ?lfilm bedeckt. Vertreter von Transneft versprechen hohe Sicherheitsstandards f?r die Energie-Ader. Selbst im Fall eines Ungl?cks k?nnten nicht mehr als 100 Kilogramm ?l auslaufen, hei?t es. F?r die Pipeline verwende man besonders dicke Stahlrohre mit „plastischen Eigenschaften“. Selbst im Falle eines Defekts werde die Stahlwand nicht vollst?ndig zerst?rt. ?l k?nne praktisch nicht auslaufen. Die ?kologen kritisieren, dass der Kreml bei der Erstellung des staatlichen Gutachtens Druck auf die Experten ausge?bt hat. Im Januar hatte die staatliche Expertenkommission noch gegen eine Trassenf?hrung entlang des Baikal gestimmt. Erst nachdem man die Zahl der Experten um 34 Personen erh?ht hatte, fiel die gew?nschte Entscheidung zugunsten der Route in Seen?he.